Gerhard Storck
Eigenschaften des Räumlichen
Mit der TON:RAUM-Ausstellung von Bernhard Leitner hat sich das Museum Haus Lange auf ein neues künstlerisches Gebiet begeben. Man kann heute noch nicht sagen, worin das Ganze "seinen Sinn" hat und worauf es hinausläuft; aber es läßt sich leicht feststellen, daß man ganz neue Seiten des eigenen Empfindens entdeckt, wenn man in den Bannkreis dieser TON:RAUM-Instrumente gerät. Man ist sofort fasziniert, weil man räumliche Grenzsituationen wahrnimmt, an die man nicht einmal im Traum gedacht hätte-: man ist sprachlos, fühlt sich aber zugleich ganz sicher.
Verwirrend ist, daß man hier unvermittelt den Ton-Bewegungen ohne Begriffe gegenübersteht; beruhigend ist, daß sich dann rasch das stabile Gefühl einstellt, man brauche sich jetzt nur noch auf seine Sinne zu verlassen. - "Hier und Jetzt" spielen bie diesen TON:RAUM-Instrumenten überhaupt eine entscheidende Rolle, wenn man davon ausgeht, daß im "Hier" die Erfüllung des Raumes liegt und im "Jetzt" die Erfüllung der Zeit. Raum und Zeit, im Augenblick ihrer Wahrnehmung, aus der Ton-Bewegung heraus, so miteinander zu verknüpfen, daß ein sicheres Gefühl für das Eingebettetsein in der "Tiefe" als Existenzgrundlage entsteht.
Schon bei der ersten Berührung mit den TON:RAUM-Instrumenten gerät sofort die gewohnte Annahme ins Wanken, Raumbestimmung sei vor allem ein architektonisches Problem - nur zu lösen mit statischen Mitteln. Wenn man auf den Instrumenten Platz gefunden hat, nimmt man die architektonischen Grenzen nach kurzer Einstimmung nur noch am Rande wahr, ohne jedoch - wie in der Musik - in eine "andere Welt" versetzt zu sein. Der Raum insgesamt ändert sich nicht, sondern wird in seiner Tiefe aufgeschlüsselt. Räumlichkeit baut sich zeitweise aus den einfachen Ton-Bewegungen als körperunabhängige Struktur in einem und um einen herum auf, ohne daß der allgemeine Raumfluß unterbrochen scheint.
Raum läßt sich gar nicht anders empfinden als durch die Wahrnehmung des eigenen Körpers innerhalb fließender Grenzen. Von einem bestimmten Raumgefühl durchdrungen zu sein, heißt doch nichts anderes, als sich aufgrund spürbarer Berührungspunkte von außen in Übereinstimmung mit ihnen so oder so zu fühlen. Raum ist so gesehen etwas, das außerhalb von allem seine Grenzen hat, seinen Sinn aber erst hier und jetzt in dieser oder jener Form der Wahrnehmung findet.
Anders als in seinem New Yorker Studio, wo er mit einem neutralen Raum und differenzierten akustischen Mitteln bei der Ortsbestimmung arbeiten kann, hat Bernhard Leitner im Haus Lange von der fertigen Architektur und ihrer offensichtlichen Bewohnbarkeit ausgehen müssen. Tonangebend ist in diesem Gebäude von Mies van der Rohe die fluktuierende Tiefenstaffelung der Raumbereiche; dagegen Vertikalstrukturen zu errichten, verbot sich schon allein aufgrund der geringen Deckenhöhe. Leitner ist ganz den vorgegebenen Raumimpulsen gefolgt und hat relativ einfache Instrumente an vier getrennten Orten aufgestellt, die dort auch optisch als einnehmbare Plätze in dem offenen Haus zur Wirkung kommen. Sie bieten sich als Ruhezonen an - als verschieden tiefe Mulden oder Senken, Dehnungen oder Konzentrierungen.
Wenn man auf der Raum-Wiege steht und seitlich der Ton spürbar aufsteigt und abebbt, absteigt und aufkommt, wieder aufsteigt und abnimmt - wenn man ihn nach anfänglicher Überraschung schon unter sich als Kommenden/Gehenden erwartet - wenn sich der Raum-Bogen weit im Gleichton spannt -: dann wankt man nicht unsicher aufgrund der sich dehnenden Basis, sondern gewinnt federnd ein neuartiges Gleichgewicht. - Oder wenn man auf der Ton-Liege nicht gestreckt daliegt, sondern aufnahmebereit und entspannt - wenn man beim Einsetzen der Tones selbst sich zum Klangkörper weitet - wenn man von Anschlag zu Anschlag mitschwingt -: dann überläßt man sich leicht der Raummulde, die der Körper im Einvernehmen mit dem durchwandernden Ton aus sich heraus bildet. - Oder wenn man dasitzt auf dem gedehnten Instrument, das einen dreifach anspricht - in der Achse des Körpers ganz deutlich und an den Seiten zur Vertiefung leiser - wenn der Raum hier zu atmen beginnt und sich stetig verengt und erweitert -: dann traut man wieder ganz seinen Ohren.
Bernhard Leitner hat mit dem Lautsprecher als Ton-Ort (nicht mehr Ton-Verstärker) einen ganz neuen Baustein entdeckt, um Räumliches in jeder Form und Tiefe zeitweise und körperbezogen entstehen zu lassen. Ihn interessiert zwar vor allem die weitergehende Untersuchung der Raumeigenschaften, doch sind dabei diese begreifbaren Instrumente entstanden.
Wir haben uns längst an Räume ohne spürbare Tiefe gewöhnt - wie an die elektronischen Mittel, zeitweise Abstand von allem zu nehmen. Aber das muß ja noch nicht das Ende jedes Raumempfindes sein. Leitner jedenfalls nutzt die elektronischen Mittel auf eine andere Weise. Er zeigt Perspektiven auf, wie mit diesen Mitteln neue Berührungspunkte und -zonen im Raum geschaffen werden können. Das Räumliche entsteht hier und vergeht wieder; es ist ohne Konstanz. Bisher sind wir davon ausgegangen, daß eine konstante Tiefendimension nur dort entstehen kann, wo Raumerlebnisse zu Gemeinschaftserlebnissen werden können. Das war in früheren Jahrhunderten durch Architektur im Zusammenhang mit allem anderen möglich; heute ist das nicht mehr der Fall. Wir müssen deshalb begreifen lernen, die Qualität des Räumlichen unabhängig von architektronischen Formulierungen zu sehen, zu hören, zu ertasten. Wir befinden uns da in einer Übergangsphase, was die Neueinstellung unseres gesamten Wahrnehmungsvermögens betrifft - bezogen auf alle Wirklichkeitsbereiche. Dieser Umstellungsprozeß dauert schon lange an. Er ist weder von seinen Anfängen her zu bestimmen, noch auf ein Ziel hin zu beschreiben.
Auszug aus dem Katalog zur Ausstellung TON:RAUM im Museum Haus Lange, Krefeld, 1979