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Bernhard Leitner

Die Rettung des Wittgenstein Hauses

vor dem Abbruch – Juni 1969 bis 21. Juni 1971

Eine Dokumentation



1 DER AUFTRAG
 
Im Oktober 1968 übersiedelte ich von Wien nach New York. Im Frühjahr 1969 lernte ich Annette Michelson kennen, Kunstkritikerin, Professorin für »cinema studies« an der New York University und »contributing editor« der damals führenden Kunstzeitschrift Artforum. Im Juni 1969 sprachen wir über die Wiener Moderne und deren Doppelbegabungen: Schönberg und Kokoschka. Ich erwähnte den Bau, den Ludwig Wittgenstein in den zwanziger Jahren in Wien ausgeführt hatte. In der New Yorker Kunstszene war das Interesse an Wittgenstein sehr groß. Erstaunt und neugierig lud Annette Michelson mich ein, einen Artikel mit Fotos über die Architektur von Ludwig Wittgenstein im Artforum zu publizieren. Damit beginnt die Rettung des Wittgenstein Hauses. Was niemand in New York oder Wien wusste: Dr. Thomas Stonborough, Sohn von Wittgensteins Schwester Margarethe, Erbe und Eigentümer des Hauses, hatte sich zu dieser Zeit bereits entschieden, das Haus verkaufen »zu müssen«.
Das Innere des Hauses war der Fachwelt wie der Öffentlichkeit so gut wie unbekannt. Der Eigentümer betrachtete das Haus als seine Privatangelegenheit, über die er frei verfügen wollte. Fremde Einblicke oder ein Schutz des Hauses im Interesse der Öffentlichkeit waren nicht erwünscht.
Auf meine Anfrage hin erlaubte mir Stonborough, das Haus zu besichtigen und einen Artikel mit Fotos vom Inneren des Hauses in New York zu veröffentlichen – nicht in Wien. Von New York aus wird in den nächsten zwei Jahren, in den entscheidenden Jahren die Rettung des Wittgenstein Hauses vor dem Abbruch betrieben und gelenkt.
 
2 DER BESUCH
 
Am 15. Juli 1969 traf ich Stonborough im Haus Kundmanngasse 19. Mit seiner Erlaubnis und in seiner Anwesenheit mache ich fünf oder sechs Fotos: zu wenig, um auf die Qualität dieser Architektur aufmerksam zu machen. Aus heutiger Sicht ist es kaum mehr nachzuvollziehen, dass der Bau unbekannt und unerkannt war. Der Diener Postl sagte beim Weggehen, ich könne am nächsten Tag nachmittags wiederkommen, um das – zu dieser Zeit herrenlose – Haus ausführlicher fotografisch zu vermessen. So entstand am 16. Juli 1969 die in wenigen Stunden durchgeführte erste Foto-Dokumentation des Wittgenstein Hauses.
Mit dem Besuch am 15. Juli begann die psychologisch höchst merkwürdige, zwiespältige, vielleicht unterbewusste, letztlich aber ungewollte Mitarbeit von Stonborough an der Rettung des Hauses. In Gesprächen und vor allem in den sechs Briefen zwischen Dezember 1969 und Juli 1970 informierte er mich offen über seine Absichten. Ohne diese Briefe würde das Wittgenstein Haus nicht mehr existieren.
Stonborough wollte das Haus verkaufen. Es war ihm zu groß, schwer zu bewirtschaften. Außerdem schätzte er es nicht sehr. Er erlaubte mir, in den USA Interesse an dem Haus zu wecken, umso vielleicht eine am Kauf interessierte Institution zu finden. Im Herbst 1969 diesbezüglich mehrfach Kontakt mit Ada Louise Huxtable, Architekturhistorikerin und Architekturkritikerin der New York Times. Aber wie kann man etwas verkaufen, was niemand kennt?
 
3 DER ARTIKEL
 
Wie vereinbart schickte ich Stonborough im November 1969 meinen Artforum-Text zur Kontrolle. Die sachlichen Aspekte stammten aus den Gesprächen mit ihm. Meine architekturkritischen Bemerkungen zu dieser Baukunst fanden seine volle Zustimmung.
Brief 1 (2. 12. 69): »Danke sehr für Ihren Brief vom 17. November und der Copie des Artikels, welchen Sie über das Haus geschrieben haben. Er gefällt mir außerordentlich! ... Es ist erfreulich zu hören, dass Sie meinen, das Interesse am Hause meines Onkels sei in New York ziemlich wach.« Höchst alarmierend aber der letzte Satz: »Mir persönlich wäre es so sehr viel angenehmer, wenn wir das Haus an eine Institution veräussern könnten, welche es als Bau erhält, anstatt es hier verkaufen zu müssen, wobei es zweifellos abgerissen würde.«
Mein Artikel »Wittgenstein’s Architecture« erschien im Artforum, Februar 1970 (S. 59–61). Dazu 14 ausgewählte Fotos – von der Halle bis zum Türgriff – mit genauer Beschreibung. Damit wurde die internationale Öffentlichkeit über die Einzigartigkeit und baukünstlerische Bedeutung der zentralen Raumgestalt zum ersten Mal informiert.
Noch vor Erscheinen des Artikels erhielt ich Brief 2 (22. 1. 1970). »Im Grunde meiner Seele bin ich recht pessimistisch, dass Ihre Rettungsaktion noch rechtzeitig den Patienten schützen wird, aber man kann nie wissen. Das Gesuch zur Umwidmung ist schon eingereicht worden.« Der Prozess lief bereits.
Erfreut über meinen Artikel und meine Bemühungen erhielt ich Brief 3 (16. 2. 1970): »Ich kann Ihnen gar nicht sagen, was es mir bedeuten würde, wenn Sie mir einen Käufer für den Besitz finden könnten, denn verkaufen werde ich es müssen, aber ich hätte immer einen bitteren Nachgeschmack, wenn es an jemanden ginge, welcher es nicht erhalten, sondern abreissen würde. Fast wie ein Vogel, der sein Nest beschmutzt.«
Diese Bemühungen werden verstärkt:
21. 1. 1970: Vorsprache bei Dr. Gleissner, österreichischer Generalkonsul in New York.
13. 2. 1970: Brief von mir an Dr. Gleissner mit Hinweisen auf die neue Situation. Ernüchternd die Interesselosigkeit und das Unverständnis von anderen offiziellen Vertretern der Republik Österreich in New York.
Am 22. 2. 1970 bringt die New York Times einen ausführlichen Beitrag mit Informationen des Artforum-Artikels. Unter dem Titel »Rescue« wurde für die Rettung plädiert: »....now there is a one-man movement afoot to save the single house. The movement is Bernhard Leitner, a young Austrian architect over here on a stint with the city’s Office of Midtown Planning and Development ... Declaring that ›immediate acquisition is the only way to preserve this ­unique monument‹, Leitner suggests that it could be used by a university or an international center. ›The prestige of the philosopher and architect Ludwig Wittgenstein will reflect on any future owner‹, he holds...«
Artforum, März 1970: »I would like to add an urgent postscript to my article ›Wittgenstein’s Architecture‹ because there is a very real and present threat that the building will be de­stroyed...« Es folgte eine Beschreibung, die nicht mit Stonborough abgestimmt worden war.
 
4 DER UNTERTITEL
 
Dr. Rudolf Walter Leonhardt, Feuilletonchef der Zeit in Hamburg, wollte »Wittgensteins Architektur« abdrucken. Da ich laut Absprache mit Stonborough keine Kommentare zur Situation schreiben durfte, versorgte ich Dr. Leonhardt in einem Brief vom 4. 2. 1970 ausreichend mit Material (u. a.: »Die Kosten für den Bau von Ludwig Wittgenstein sind die Abbruchkos­ten«). Aus dieser Information sollte er ein eigenes Vorwort formulieren.
Am 20. 2. 1970 erschien mein Artikel in der Zeit unter dem Titel »Der Philosoph als Architekt«. Der Untertitel: »Das einzige Haus, das Ludwig Wittgenstein erbaute, soll abgerissen werden.« Untertitel und redaktionelles Vorwort über die Verkaufsverhandlungen entsprachen ganz meiner Absicht. Klärende und wichtige Reaktionen.
4.1 Aus Zürich bekundet Max Bill mir in seinem Schreiben vom 27. 2. 1970 sein Interesse an dem Bau und dessen Schicksal. Wenn er irgendwie behilflich sein könnte, sollte ich mich an ihn wenden. (So konnte ich Max Bill im Juni 1971 als einen der drei Sachverständigen zur Begutachtung der Denkmalwürdigkeit des Objektes vorschlagen.)
4.2 Stonborough kritisiert in Brief 5 (27. 2. 1970) die »journalistischen ›Sales-Techniken‹« und schreibt: »Diese ›Aufhänger‹, das heisst der Untertitel über Abreissen des Gebäudes einerseits und der Teil des ersten Paragraphen, welcher über Verhandlungen zwecks Verkauf andererseits berichtete, waren ganz und gar gegen meine Intentionen. Sie haben mir sehr geschadet... Ich bitte Sie, weder in USA noch in Europa je irgendwelche Äusserungen über die Möglichkeit hiesiger Verhandlungen wegen eines eventuellen Verkaufs, noch über das Abreissen des Gebäudes zu machen. Unter gar keinen Umständen!« Oder: Der Erbe allein entscheidet über das Schicksal dieser Baukunst.
4.3 In Wien, wo dieser Entscheidungsprozess bereits im Gange ist, wird die Gefahr erstmals wahrgenommen. Die Arbeiter Zeitung und Die Presse berichten kurz über den Artikel in der Zeit.
 
5 DER LESERBRIEF
 
Am 10. 3. 1970 erscheint als Antwort ein Leserbrief in der Presse unter »Demoliereroffensive«: »Was das Haus Wittgenstein in der Kundmanngasse 19 betrifft, so hätte sich der Autor durch eigenen Augenschein leicht überzeugen können, daß der Bauzustand gut ist und daß das Haus zur Gänze bewohnt wird. Die Behauptungen Bernhard Leitners von einem beabsichtigten Verkauf oder gar Abbruch entbehren, wie der Eigentümer versichert, jeder Grundlage. Der Kassandraruf dient nur dazu, dem Artikel einen ›Aufhänger‹ zu verschaffen. Es bleibt dahingestellt, ob solches der Sache des Denkmalschutzes nützt. Dr. Peter Pötschner, Bundesdenkmalamt, Wien, I.«
 
6 DAS DENKMALAMT
 
Das Denkmalamt, offensichtlich falsch informiert, will die Debatte abwürgen. Darüber hinaus findet der Landeskonservator von Wien, Dr. Pötschner, eindeutige Worte gegen das Wittgenstein Haus: »Einem so eigenartigen Gebilde kann jeder beliebige ›Sinn‹ unterlegt werden, Spleen und cupiditas rerum novarum können zwar reizvolle Effekte, aber noch keine echte Form schaffen und jeder Architekt könnte zum bloßen Erfüllungsgehilfen degradiert werden, brächte man die 1000 Wünsche und Einfälle der Bauherrschaft vom künstlerischen Ganzen in Abzug...« (Typoskript eines Artikels des Landeskonservators für Die Presse vom 10. 4. 1970.) Das Denkmalamt zweifelt offiziell und obstinat nicht nur die Leistung von Ludwig Wittgenstein, sondern die Urheberschaft von Wittgenstein an. Möglicherweise nach Rücksprache mit dem verkaufsorientierten Besitzer. Die Rettung des Hauses wird noch schwieriger.
Nun kontaktierte ich mehrere Philosophen und Schüler Wittgensteins. Sie schreiben an das österreichische Generalkonsulat in New York, um gegen den drohenden Abbruch zu protes­tieren und attestieren die eindeutige Autorschaft von Wittgenstein. »Dies ist der einzige mir bekannte Fall eines bedeutenden Kunstwerkes, welches von einem hervorragenden Philosophen geschaffen wurde.« (Max Black). Die Briefe von Prof. Max Black, Prof. Norman Malcolm, Prof. Stewart Brown und Prof. von Wright werden Mitte Mai 1970 »an die zuständigen österreichischen Stellen« in Wien weitergeleitet.
Im August 1970 schickt Dr. Thalhammer, Präsident des Denkmalamtes, seine Antwort an das Generalkonsulat: »Freilich wird sich das großbürgerlichen Lebensverhält­nissen angepasste Einfamilienhaus als Wohnhaus nicht auf Dauer halten können. Eine Unterschutzstellung ist kaum in Erwägung zu ziehen, da ebenso wie die künstlerische ­Bedeutung des Hauses auch die Rolle Wittgensteins als Architekt mehr als problematisch ist...«
Besitzer Stonborough und Denkmalamt argumentierten zu diesem Zeitpunkt, dass Paul Engelmann das Haus erbaut habe. Aus meinen Gesprächen mit und aus den Briefen von Stonborough wusste ich aber, dass Wittgenstein der Architekt dieses Hauses war. Ein Telefongespräch mit Prof. von Wright, Schüler von Wittgenstein, bestätigte dies: Anlässlich seines Treffens mit Paul Engelmann in Tel Aviv sagte Engelmann, dass der Bau das Werk von Ludwig Wittgenstein sei. Diese damals so wichtige Aussage zur Urheberschaft wurde viele Jahre später in den Briefen von Paul Engelmann an Hermine Wittgenstein und Friedrich Hayek weiter bestätigt.
 
7 DIE GESPANNTE RUHE
 
Weitere Versuche, einen geeigneten Käufer im Ausland zu finden.
6. 4. 1970: Brief an Phyllis Lambert.
Im Juni 1970 interessieren sich in London der Architekt Sandy Wilson und die Zeitschrift ­
A. D. für einen Abdruck meines Artikels mit den Fotos. Durch eine Zusatznotiz soll auf den Verkauf aufmerksam gemacht, aber auch internationaler Druck ausgeübt werden. (Das Material erscheint im Juniheft 1971, zu diesem Zeitpunkt bewusst ohne Kommentar).
6. 7. 1970: Besuch bei Max Bill in Zürich.
13. 7. 1970: Brief an Max Bill. »Ihre Idee, das Wittgenstein-Haus zur Repräsentation und als Wohnsitz für den Schweizer Botschafter erwerben zu lassen, scheint mir unter den gege­benen Umständen die beste und sinnvollste...«
In Brief 6 (15. 7. 1970) schreibt Stonborough: »Es war besonders nett von Ihnen, mit Bill eine so lange Unterredung darüber zu erwirken und durchzuführen. Im Prinzip ist die Idee groß­artig und nichts wäre mir lieber, als das Ganze an die Schweizer Regierung zu verkaufen. Aber ich frage mich, ob Herr Bill auch sicher ist, daß die Schweizer eine Botschaft zu kaufen suchen...«
Aus öffentlicher Sicht war keine wie immer geartete Entwicklung der Angelegenheit fest­zustellen.
Die kurzlebige Aufregung in Wien nach dem Zeit-Artikel konnte wieder abebben. Aber der Ruhe in Wien war grundsätzlich nicht zu trauen, war doch bereits im Januar das Gesuch zur Umwidmung eingereicht worden (s. Brief 2).
 
8 NEW YORK – WIEN – NEW YORK
 
Ob von New York aus gegen die politischen, stadtplanerischen und wirtschaftlichen Interessensverknotungen in Wien noch etwas zu erreichen sei, war nicht klar. Aber ich wollte, ich musste den Fall im Auge behalten. Da war es von Vorteil, dass Kollegen aus meiner Wiener Studienzeit beruflich nun in Positionen waren, von denen aus eine Beobachtung der Ereignisse möglich war. Ich war so in New York telefonisch und schriftlich über die Entwicklung des Falles »Haus Wittgenstein« sehr genau informiert.
März 1971: Mitteilung, dass eine Interessengruppe (Anwalt, Baufirma und Makler mit verwandtschaftlichen Kontakten zum Wiener Rathaus) eine Option von Stonborough auf das Haus hat. Der Plan: ein Hotelhochhaus ersetzt das Wittgenstein Haus.
3. 6. 1971: Der Planungsausschuss des Wiener Gemeinderates stimmt der Abänderung des Flächenwidmungs- und Bebauungsplanes für das Grundstück zu. Es regte sich weder ein öffentliches noch ein privates Interesse auf die Zeitungsmeldung über diese Empfehlung für eine Umwidmung.
 
9 DIE INTERVENTION
 
11. 6. 1971: Aus New York kommend, bin ich für einige Wochen wieder in Wien.
Ich kannte den Stand der Entwicklung genau. Ich wusste – was in Wien offensichtlich niemand interessierte oder in seiner Tragweite erkennen wollte –, dass am 18. 6. 1971 der Wiener Gemeinderat die Umwidmung beschließen wird, dass an diesem Tag der Wiener Gemeinderat den Abbruch des Wittgenstein Hauses beschließt. In dieser Situation konnte ich nur noch versuchen, politisch einflussreiche Entscheidungsträger davon zu überzeugen, dass es Wittgenstein war, der das Haus erbaute.
16. 6. 1971: Treffen mit dem zuständigen Stadtrat. Seine Antwort: Zu spät. Es gibt den negativen Bescheid des Denkmalamtes.
Dem Bundeskanzler Kreisky oder seinem Sekretär schien mein ausführliches Schreiben an ihn vom 17. 6. 1971 nicht bedeutsam. Kein Gesprächstermin frei.
Die letzte Ansprechmöglichkeit war das für den Denkmalschutz zuständige Wissenschafts­ministerium. Ich übergab Frau Minister Firnberg die sechs Briefe von Stonborough an mich, in denen die Wahrheit über die Urheberschaft zu lesen war. Frau Minister Firnberg musste die revolutionäre Qualität des Baues nicht verstehen, aber sie sollte dringend zur Kenntnis nehmen, was das ihr zugeordnete Denkmalamt nicht zur Kenntnis nehmen wollte: Wittgenstein war der Architekt dieses Hauses. Allein aus kulturgeschichtlichen Erwägungen müsste der Bau eines der bedeutendsten Philosophen unter Denkmalschutz gestellt werden.
Am nächsten Tag bekam ich die sechs Briefe zurück. Die Folgen: Frau Minister Firnberg versuchte, eine Absetzung der Umwidmung zu erreichen und ordnete eine neuerliche Überprüfung einer Schutzwürdigkeit an.
 
10 DIE UMWIDMUNG
 
Arbeiter-Zeitung, Wien, 19. 6. 1971: »Die Einhelligkeit bei den Beratungen über den Hotelbau in der Kundmanngasse [wurde] unter anderem dadurch gestört, daß ein Diplomingenieur Leitner erklärte, daß das auf dem Grundstück stehende, von Wittgenstein erbaute Haus als Denkmal erhalten werden solle. Die Stadt Wien ist mit der Frage nur insofern befaßt, als der Gemeinderat einer Umwidmung des Grundstückes zustimmen sollte, was gestern auch geschah (mit 93 gegen 7 Stimmen)... Das Wissenschaftsministerium, das ersucht wurde, gegen den Beschluß des Wiener Gemeinderates einzuschreiten, erklärte in einer Stellungnahme, daß nach eingehender Prüfung des Wittgenstein-Hauses von seiten des Bundesdenkmalamtes kein Grund für eine Bewahrung des Gebäudes festgestellt werden konnte. Außerdem wird bezweifelt, daß der Bau überhaupt von Wittgenstein stammt. Dennoch hat Wissenschaftsminister Dr. Hertha Firnberg eine nochmalige Prüfung der Schutzwürdigkeit des Gebäudes durch das Bundesdenkmalamt zugesagt...«
 
Die Presse, Wien, 19./20. 6. 1971: »Der Abbruch des Wittgenstein Hauses in der Kundmanngasse wurde vom Gemeinderat in seiner Freitagssitzung gegen die Stimmen von FPÖ und DFP beschlossen. Bei der Diskussion fiel der Name des Philosophen nicht. Bundesminister Firnberg hatte auf Grund einer Vorsprache des Architekten Bernhard Leitner Freitag früh versucht, eine Absetzung der Umwidmung von der Tagesordnung zu erreichen. Seitens der Gemeinde Wien war jedoch, aus formalen Gründen, eine Absetzung nicht mehr möglich. Unabhängig von dieser Tatsache wird aber noch einmal über die Schutzwürdigkeit dieses Objektes gesprochen werden, da Minister Firnberg das Bundesdenkmalamt beauftragt hat, erneut die Frage der Schutzwürdigkeit zu überprüfen. Da der Landeskonservator von Wien, Pötschner, jedoch auf dem Standpunkt steht, daß der Bau nicht von Wittgenstein stamme, und die Schutzwürdigkeit leugnet, ist von der Neuaufnahme der Gespräche mit ihm wenig zu erwarten.«
 
11 DER NACHRUF
 
Am Tag der Umwidmung, die einem inoffiziellen Abbruchsbescheid gleichkam, ging ich nochmals mit einem ausführlichen, scharf formulierten Artikel an die Öffentlichkeit. Nach all den Erfahrungen hatte es längst keinen Sinn mehr, wie zu Beginn meiner Kampagne, mit der ästhetischen Qualität des Hauses zu argumentieren. In der Presse vom 18. Juni 1971 versuchte ich mit allem Beweismaterial das Lügengebäude um die Urheberschaft zu Fall zu bringen.
 
12 DER ANRUF (Ein Glücksfall)
 
Hätte das Denkmalamt auf diesen Nachruf nicht reagiert, wäre der Abbruch des Wittgen­stein  Hauses noch 1971 vollzogen worden. Obwohl ich darin dem Landeskonservator, Dr.Pötsch­ner, die fachliche Kompetenz in dieser Angelegenheit abgesprochen hatte, erhielt ich am selben Tag einen Anruf aus dem Denkmalamt. Es war Freitagnachmittag. Ich wurde für Montag früh, den 21. 6. 1971, in das Wittgenstein Haus eingeladen. Dort wollte der Landes­konservator – vor einem eilig einberufenen, kleinen Kreis von Personen – die Kritik an seiner folgenschweren Entscheidung endgültig zum Verstummen bringen.
 
13 DER AUFRUF
 
Ich musste die Situation umdrehen. Meine Strategie ging dahin, diese mit Autorität angesetzte Veranstaltung zu unterwandern. Das selbst in Wien den Fachleuten unbekannte Haus musste mit Öffentlichkeit gefüllt werden. Das Haus musste ein Wittgenstein-Forum werden. Über das Wochenende verständigte ich die internationale Presse und lud auf eigene Verantwortung telefonisch eine große Zahl von Journalisten, Schriftstellern und Architekten in das Haus ein, die so das einzigartige Innere des Hauses auf diese Weise erstmals selbst sehen konnten. Besitzer und Landeskonservator waren über die vielen ungebetenen Gäste sehr verwundert, ganz offensichtlich irritiert. Die Strategie war aufgegangen. Die hohe, eindrucksvolle Ästhetik des Baues überzeugte alle Anwesenden. Die bisherige Privatheit einer großen Baukunst und das offizielle Negieren einer denkmalwürdigen Qualität, beides wurde an diesem Vormittag beendet.
 
Damals, am 21. Juni 1971, war mir klar, dass ein Abbruch des Hauses Wittgenstein endgültig verhindert war. Das hatte ich nach zwei Jahren erreicht.
 
P.S.: Endlich begannen sich auch die Berufsvertretungen für eines der wichtigsten Bau­denkmäler des 20. Jahrhunderts zu engagieren: jetzt forderten alle die Rettung des Wittgenstein Hauses. An diesem Vormittag begann die lange Geschichte der vielen Rettungen des Hauses, Begutachtungen, Unterschutzstellung, Verwahrlosungen, Verstümmelungen, Wiederherstellungen.