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Stefan Fricke im Gespräch mit Bernhard Leitner


„Mit dem Knie höre ich besser als mit der Wade“


Über Ton-Raum-Architekturen im Kopf, im Körper und anderswo



Fricke: Ein Klangkünstler, hast du einmal gesagt, seiest du nicht.


Leitner: Das ist etwas einseitig. Der Schwerpunkt meiner Arbeit liegt im Raum-Denken, im Raum-Schaffen, und Klang ist das Material, das Medi um, mit dem ich Raum komponiere, mit dem ich Raum baue. Insofern ist das Wort Klangkünstler für meine Arbeit etwas zu kurz gegriffen. Und der Begriff „Tonkünstler“ war im 19. Jahrhundert schon sehr verbreitet. Ich habe mich – fast beschreibend – öfters als Ton-Raum-Künstler bezeichnet. Wir leiden ein wenig unter der Inflation der Begriffe.


F: Begriffe, Bezeichnungen, die das künstlerische Tun einzuengen suchen, stehst Du sehr skeptisch gegenüber. Du verstehst Dich auch nicht als Komponist. Jedenfalls nicht als einer in unserem traditionellen Verständnis.


L: Vielleicht bin ich ein Komponist im Sinne anderer Kulturen, die akustisch etwas ausgedrückt haben, was anders nicht auszudrücken war. Aber es muß ja deswegen nicht Musik sein. Wir sind seit John Cage und den Vielen, die auf diesem Gebiet gearbeitet haben, doch viel hellhöriger geworden. Die sprachlichen Begriffe engen einfach sehr stark ein: Bildhauer, Graphiker, Musiker, Choreograph usf. Das Interessante ist, daß die heutigen Medien, die einander verfließen und sich ineinander vernetzen, diese Kategorisierungen und Schubladisierungen einfach verschwinden werden lassen. Das sind Überreste einer Bildungskultur, wo das Kunst-Wissen sofort in einem bestimmten Bereich festgemacht worden ist. Was gefordert wird und was auch ich mit meiner Arbeit fordere, ist ein eigenständiger und ein selbstverantwortlicher Umgang mit diesen (inzwischen nicht mehr so) neuen Arbeiten, die sich nicht a priori einordnen und kategorisieren lassen.


F: Deine ästhetische Praxis thematisiert stets das Hier und Jetzt der Raumerfahrung. Ein hörendes Raumerlebnis, das von immens vielen Aspekten abhängig ist. Nicht nur von den akustischen Komponenten, die Du für diese oder jene Deiner Arbeiten auswählt, sondern neben der momentanen psychischen Verfassung des Einzelnen auch von dessen individueller physischer Beschaffenheit abhängig ist, seinem Körperbau, seinem Gewicht, seiner Masse. Allesamt architektonische Fragen, wenn man Architektur nicht bloß als abstrakte, nur selbst bezogene Raumgestaltung versteht, sondern als umfassende Gestaltungslehre von Objekten und Räumen für Menschen und ihre Sinne. Man könnte Dich doch als Architekt bezeichnen.


L: Ja, das könnte man. Dabei fällt aber der ganze Aspekt des Klanglichen, die Ton-Sprache meiner Architektur sozusagen, weg. Ich denke schon, daß die Grundidee meiner Arbeit, mit Klang, mit Ton Architekturen, Skulpturen, Objekte zu entwickeln, über den tradierten Architekturbegriff hinausgeht. Aber, wie schon gesagt, diese Begriffe haben im gesellschaftlichen Umgang mit Sprache eine gewisse Bedeutung. Das kann und wird sich wohl ändern.


F: Ohne die Ausbildung zum Architekten wärst du aber wohl nicht dahin gelangt, wohin du in den sechziger Jahren gekommen bist?


L: Das ist richtig. Die Beschäftigung mit Architektur ist letztlich Beschäftigung mit Raum. Die Architektur hat mir aber sicherlich in mehrfacher Hinsicht die Sinne geöffnet. Architektur fängt etwa mit dem Objekt an: beim Sitz-Objekt, beim Liege-Objekt, führt in den Raum, in das gesellschaftliche Miteinander und dann weiter in die Stadt, in den soziologisch, politisch, ökonomisch zu denkenden Zusammenhang einer größeren Gruppe von Menschen. Hier hat die Architektur eine wesentliche Klammerfunktion. Wir haben damals Architektur in dieser Sichtbreite studiert, vom Möbelbau bis zum Städtebau. Heutzutage sind die Gebiete wesentlich enger definiert und gegeneinander abgegrenzt. Für meine Arbeit hatte dieses Studium entscheidende Folgen, oder sagen wir so: es war schon auf dem Weg oder im Findungsprozeß der Idee ein gewichtiger Mosaikstein. Fraglos ist, daß – als ich in Wien Architektur studierte – meine Beschäftigung mit Klang und mit Musik – mit klassischer Musik, etwas Jazz, vor allem aber das Hören und Sehen der Musik der fünfziger/sechziger Jahre eine besondere Neugierde kultiviert hat. Wenn ich heute Iannis Xenakis‘ Terretektorh für 88 im Publikum verteilte Instrumente von 1965/66 höre, scheint es mir, als hätte ich damals bei solcher Musik mehr den Raum gehört als die Musik. So würde ich das jetzt im Rückspiegel sehen, das gleiche gilt für Kagel-Stücke, für Stockhausen-Stücke. Experimentieren mit dem musikaischen Raum – Stockhausen wollte den Raum als weiteren Parameter der seriellen Kompositionstechnik hinzufügen.

Es gab andererseits auch theoretisch-hochkomplizierte-komplexe Ansätze, die in der Zeitschrift die Reihe (Universal Edition) publiziert wurden: z.B. Grafiken von ton-räumlichem Akkorddrehungen mit Spiegelung, Stauchung, Spreizung kombiniert, von Chromatik-Quint-Transformationen, Ton-Gittern und Achsentransformationsgruppen. Diese Musik-Geometrie habe ich wie klangräumliche Architekturen gelesen. Solche Ansätze waren außerordentlich anregend. Ähnliches gilt für meine Beschäftigung mit Tanz. Tanz kann u.a. in seiner Gestik als ein Übersetzen von Körpersprache einer Person, von mehreren Personen in den Raum verstanden werden. Eine streng-klassische Petipa-Choreografie ist wie getanzte Architektur. Eine Zeit-Gestalt von bewegten, sich öffnenden und sich schließenden Räumen. Enge Räume. Weite Grenzen. Eine Diagonale oder Korridore mit sich drehenden Körpern bauen. Vieles von George Balanchine kann man so lesen. Die Gestik zeichnet, entwirft Raum, wird zum Raum. Letztlich gilt das für Merce Cunnigham ebenso. Irgendwie haben sich diese verschiedenen Interessen der Neugierde und der künstlerischen Auseinandersetzung im Speicher von Gehirn und Körper verbunden, überlagert, durchdrungen, und in irgendeinem nicht vorauszusehenden Moment, im Herbst 1968, entstand diese Idee: Nimm Ton als Material und baue damit Räume.


F: Wie baust du einen „Ton-Raum“?


L: Die ursprüngliche Idee war wirklich direkt abgeleitet vom Skizzieren von Architektur. Ich definierte eine Linie als eine Folge von Punkten, und dachte jeden Punkt als Tonquelle. Ich habe mit dem Bleistift fürs Auge Linien gezeichnet. Für das Ohr waren es Ton-Linien. Ein frühes Beispiel: ich skizzierte ein Ton-Tor mit einer aufsteigenden und einer absteigenden, torartigen Anordnung beziehungsweise Aneinanderreihung von zwanzig Lautsprechern. Ich habe im klassischen Sinn eine Tor-Architektur skizziert, aber mir Ton-Linien im zeitlichen Ablauf vorgestellt. Diese Ton-Linien-Räume wurden nach ersten theoretischen Überlegungen und Konzepten in verschiedensten Konfigurationen und Versuchsanordnungen akustisch-empirisch untersucht.

Aber das Gestalten von Raum durch dreidimensional-bewegte Ton-Linien ist nur eine der vielen Möglichkeiten, mit Klang Räume zu komponieren, zu bauen. In der Arbeit Gekneteter Raum , die ich als einen Programmteil im Ton-Würfel bei der documenta 7 (1982) in Kassel gezeigt habe, erfährt der Hörer/Besucher Raum so, als ob er sich in einer gekneteten Masse befände. Drei in sich verknotete, verschlungene Bewegungen von tiefen Klängen werden zum gekneteten Raum. Das sind keine Hüllen mehr, die gezeichnet werden können, keine begrenzenden Linien oder Flächen, sondern sich selbst durchdringende akustische Bewegungen. Es entsteht ein völlig neuer Raum, den es im visuellen Bereich so nicht gibt und auch nicht geben kann. Wir können im akustischen Bereich verschiedene Grenzen gleichzeitig hören, wir können verschiedene Maßstäbe gleichzeitig hören. Die Bedingungen und Bestimmungen eines akustischen Raumes sind sehr verschieden von jenen des visuellen Raumes.

Später kam das Arbeiten mit Schwingungsfeldern, mit Resonanzflächen dazu. Wieder ein Beispiel: die Tuba-Architektur. Eine industriell gefertigte, gewalzte, drei Millimeter starke, frei aufgehängte Metalltafel wird mittels eines in der Mitte der Tafel magnetisch montierten Lautsprecherchassis (oder eines shakers) in Schwingung versetzt. Parallel dazu im Abstand von fünfundsiebzig Zentimeter ist eine zweite, gleiche Metalltafel aufgehängt. Beide Flächen strahlen die durch einen tiefen multiphonen Tuba-Klang angeregten Schwingungsfelder gegeneinander ab. Wenn man diesen Raum betritt, tritt man in eine akustisch verdichtete Zone ein. Es ist ein akustischer Raum, der weder linear begrenzt wird, noch als Hülle darzustellen wäre, sondern als Raum-Verdichtung erlebt wird, als Raum, der in den Körper eindringt, der sich im Körper-Innersten des Hörenden manifestiert. Der Raum bin ich.

Neuere Arbeiten haben mit Klang-Projektionen zu tun: Klänge erscheinen dort, wo keine Klangquellen sind. Eine weitere Ausweitung meiner Arbeit an akustischen Räumen. Wie man in Akustik-Büchern des 18. Jahrhunderts lesen kann, gab es in der älteren Architektur ein Bewußtsein dafür, daß durch bestimmte Formgebungen, durch Krümmungen, durch harte Materialien, durch Verrohrungen mit glatten Innenauskleidungen ein Weiterleiten von Klang, ein Zurückwerfen von Klang, ein Bündeln und Streuen von Klang gestaltet werden kann. Dieses Wissen, diese Selbstverständlichkeit, ist uns weitgehend verloren gegangen.

Einige Arbeiten der letzten Jahre sind aus der Beschäftigung mit diesen Ideen entstanden. Wieder ein Beispiel: die Arbeit Klang-Strahlen, die ich 2003 bei den Donaueschinger Musiktagen gezeigt habe. Aus drei, am Boden aufgestellten Parabolschalen wurden Klänge gebündelt auf eine sieben Meter entfernte Wand abgestrahlt. Die Klänge einer dreikanaligen Komposition bildeten sich auf dieser Fläche wie bewegte gestische Klang-Erscheinungen ab. Eine nicht geringe Faszination entstand dadurch, daß der Klang auf der Wand nicht nur als Erscheinung für das Ohr wahrgenommen wurde, sondern auch für das Auge und nicht zuletzt mit einer haptischen Neugierde. Viele Personen sind auf die Wand zugegangen und haben versucht, die dort erscheinenden Klänge mit der Hand zu berühren, zu greifen, zu begreifen. Die akustische Welt ist auch eine haptische Welt, was oft wegen der Gleichsetzung von Hören und Ohr übersehen wird. Die akustische Haptik spielt in meiner Arbeit eine wesentliche Rolle. Das Ohr ist ein Wunderwerk, aber wir hören auch mit der Haut, mit den Knochen, mit den Knochenröhren, den harten Platten des Knochenbaues, mit den Membranen, Höhlen und Kanälen. Das körperliche Berührtwerden durch und das Weiterleiten im Körper von physikalischem Schalldruck ist wesentlicher Teil des Hörens. Ein ausgepolsterter Mensch hört anders als eine zarte Person, die keine Fleisch- und Muskelpolster hat. Ich höre mit dem Knie besser als mit der Wade.


F: Du hast eben davon gesprochen, du würdest weniger mit Klang arbeiten als vielmehr mit Ton. Gleichwohl hast du im bisherigen Gespräch das Wort „Klang“ häufiger verwendet als das Wort „Ton“.


L: Das hat auch wieder etwas mit unseren sprachlichen Begriffen zu tun. Wenn ich im Englischen „I work with sound“ sage, so ist das inhaltlich völlig offen. Wenn ich im Deutschen „Ich arbeite mit Klang“ sage, so heißt das für viele – durch die Klang-ist-gleich-Musik-Einstellung der letzten zwei-, dreihundert Jahre europäisch-westlicher Musikkultur: „Das ist ein Musiker.“ Deshalb habe ich meist das Wort „Klang“ vermieden und das Wort „Ton“ verwendet. Es ist doch so, daß die Sprache verrät, was in den Gehirnen einer Gesellschaft vorgeht. Besonders für Wien mit seiner Musiktradition gilt diese Klang=Musik-Vorstellung mit all ihren Konsequenzen. 


F: Das bedeudet?


L: Das bedeudet, daß das akustisches Gehirn so erzogen wurde, daß es ein Geräusch, einen Ton oder einen Klang, der nicht ästhetisch a priori als solche Musik definiert ist, nur als Lärm oder als klanglich unkünstlerisches, musikästhetisch uninteressantes Signal hören will und hören kann. Der Musikvereinssaal in Wien ist eine höchst stimmige Umsetzung der gesellschaftlichen, musikkulturellen Situation um 1870. Theophil Hansen ist es gelungen, für die Musikkomposition und für das Musikhören jener Zeit den idealen akustischen Raum zu bauen. Eine ideale, damals zeitgleiche Architektur für Musik und Gesellschaft, vor der man nur Respekt haben kann. Heute, über 130 Jahre später ist der goldene Saal der Hort gehüteter Musik-Hör-Tradition.


F: Wohin müßte oder könnte sich dieses Denken entwickeln?


L: Wenn die Abonnement-Gesellschaft sich weniger mit der immer wieder vergleichenden Interpretationskunst zufrieden gäbe, dann würde, könnte sich wohl die Neugierde, Anderes, Neues zu hören, entwickeln. Man ist durch die eigene akustische Schulung des Gehirns dafür verantwortlich, welches akustische Gehirn man hat.

 

F: Verstehst du deine Kunst als Intervention gegen diese Zustände?

 

L: Nein. Es wäre schon für die eigene Standortvermessung falsch, sich ganz gegen diese Tradition zu stellen. Eine gewisse Distanzierung zu dieser Art von Musik-Konsum der Glücksgefühle des Wiedererkennens ist notwendig. Außerdem gibt es in Wien einen zweiten Musikort, das Konzerthaus, wo das neue Klang-Denken, das neue Klang-Hören seit Jahrzehnten eine sehr bedeutende Rolle spielt.


F: Aber vermittelt deine Ton-Liege nicht auch Genuß, ist sie nicht auch ein akustisches Wellness-Instrument zum Wohlbefinden des Körpers?


L: Das ist eine sehrverkürzte Sicht der Ton-Liege. Heutzutage spricht jeder über Körper, vor dreißig Jahren hat man nicht über den Körper gesprochen. Da waren meine Untersuchungen zum Körper-Hören für mich völliges Neuland und eine wichtige Erfahrung. Als ich mit meinen Hör-Versuchsanordnungen entdeckt habe, daß man nicht nur mit den Ohren hört, sondern auch mit den Sohlen und mit der Brust und mit der Schädeldecke, und daß der Ton nicht nur um mich herumwandert und nicht nur über mir sich wölbt oder unter mir durchpendelt, sondern daß akustische Grenzen durch den Körper selbst verlaufen, daß sich Räume durch den Körper bewegen lassen, daß so Innen und Außen völlig andere Bedeutungen bekommen, wurde mir bewußt, wie körperlich-verschieden akustisches Raum-Schaffen anzudenken ist im Vergleich zu visuellem Raum-Gestalten. Mit diesen Erkenntnissen habe ich Objekte gebaut wie die Ton-Liege. Es war überraschend und faszinierend, den Klang im Körper selbst zu hören, das Fließen von Klang im Körper, wie der eigene Körper zum erlebten akustischen Innen-Raum wurde. Kein Mensch hat damals von Körper-Wellness-Kultur gesprochen. Das hat damit auch nichts zu tun.


F: Die Wahrnehmung, das unmittelbare Erleben und Erfahren des eigenen Körpers und seiner Möglichkeiten sind ganz zentrale Aspekte in deiner Kunst. Bleiben wir mal bei einer konkreten Arbeit, dem Vertikalen Raum für eine Person, in der ebenfalls der Klang von der Sohle bis zum Scheitel und retour durch den Körper fließt.


L: Als ich den frühen siebziger Jahren angefangen habe, Ton-Raum-Objekte, körpernahe Objekte für eine Person zu entwickeln, haben mich Fragen interessiert wie „Was und wie höre ich durch mehrere (voneinander unabhängigen) Schallquellen, die direkt am Körper angebracht werden? Was höre ich, wenn die Ton-Bewegungen meinen Körper durchfluten? Wie höre ich liegend einen Klang, der unter der Brust am Boden ansetzt und durch die Brust aufsteigt, das Heben und Senken des Brustkorbes wie beim Atmen vertikal in beide Richtungen durchdringt?“ Bei diesen grundsätzlichen Untersuchungen ergab es sich wie von selbst, daß ich mich auf eine Klangquelle (eine Lautsprecherbox am Boden), auf eine Art Basis stellte, wobei über mir, über dem Kopf frei im Raum eine zweite Klangquelle aufgehängt wurde: Das ist die zweikanalige Anordnung der Arbeit Vertikal-Raum für eine Person aus dem Jahr 1975. Der Ton beginnt in der Ton-Raum-Komposition unter den Sohlen, steigt aus der Basis vertikal durch den stehenden Körper auf und endet seine räumliche Bewegung über der Schädeldecke im oberen Lautsprecher. Im entsprechenden diminuendo-dynamischen Aufwärtsverlauf ist der Vertikal-Raum eine Art Abheben, in der Abwärtsbewegung, crescendierend, wird der Körper durch Beine und Füße gleichsam in die Erde verwurzelt.

Das vertikale Hören hat mich immer sehr fasziniert, nicht nur weil in Büchern über akustische Physik steht, daß man in der Achse unseres Körpers vertikal nicht hören kann, daß der Scheitelpunkt über der Schädeldecke akustisch-räumlich nicht lokalisierbar ist. Im bewegten Ton-Raum kann man ihn sehr wohl lokalisieren und hören: Wenn zwei verschiedene Töne symmetrisch auf beiden Seiten des Kopfes aufsteigen und sich exakt über der Mitte des Kopfes treffen. Diesen Scheitelpunkt einer Wölbung kann das Hör-Gehirn exakt lesen und lokalisieren. Das Vermessen seiner eigenen Person in einem Raum, der aus Ton-Bewegungen entsteht, ist keine Selbstverständlichkeit. Das Hören muß immer wieder gelernt, erweitert werden. Wir haben uns entwicklungsgeschichtlich sehr auf das Sinnesorgan Auge verengt. Das hat bis zu einem gewissen Grad auch mit der Entwicklung der Fotokultur zu tun. Fotos kann man zeigen, publizieren. Akustik läßt sich nicht publizieren. Es braucht die Erfahrung vor Ort. Das Weitergeben von akustischer Erfahrung kann eigentlich nur über das direkte Erleben gehen. Das gilt für Akustik im allgemeinen und für meine Arbeit wohl ganz besonders.


F: Demnach ließe sich deine Arbeit auch als anthropo-biologische Kunsttätigkeit beschreiben.


L: Meine Arbeit hat sehr viel mit dem Körper zu tun. Wie wir körperakustisch hören, Wie wir uns im Raum vermessen. Es gibt Räume, in denen man nicht sprechen kann. Nicht nur, weil das Echo zu laut, der Raum zu hallig ist. Der Raum kann auch akustisch-stumpf sein. Wenn ein Raum zu stumpf ist, fließt der Klang nicht von einer Person zur anderen, in die andere Person hinein. Ich rede ja nicht zum Ohr des/der Anderen, ich rede zum Körper. Es gab frühere Kulturen, die die Stille kannten, die kannten auch die Dunkelheit. Sie haben anders gesehen, geschaut und vor allem anders gehört: sie haben gehorcht. Ich kenne sehr wenig Leute, die horchen, die horchen können. Ich habe aber das Gefühl, das gerade jetzt, wo wir mit akustischem Müll zugeschüttet werden, die Neugierde auf dieses Sinnesorgan, auf diesen Sinn wächst Was können wir denn hören“ Die nächste Frage ist: Was sollen wir hören? Und die nächste: Was müssen wir hören, damit wir daraus einen Nutzen ziehen? Eine Bereicherung, Vertiefung unserer Kultur über das Hören.


F: Ist der Rundfunk, das Radio eine wichtige Institution für diese Fragen?


L: Es ist müßig, über die geschichtliche Bedeutung des Rundfunks für unsere Kultur zu reden, das weiß man und kennt man, auch die politische Dimension bis zur strategischen Manipulierbarkeit. Das Radio ist, glaube ich, ein Medium, das sich als künstlerische Plattform noch weiter entwickeln kann und wird. Es gibt neue Arbeiten von mir, die ich Kopfräume nenne. Sie sind für den Kopf konzipiert. Ton-Bewegungen im Kopf, die im Kopf verschiedenartige Räumlichkeiten erzeugen. Der Kopf ist ein akustischer Aufführungsraum, der kein eigenes Maß hat, aber mit exakten Bewegungen von Klang vermessen wird. Es ist, als wenn man sich mit nach innen gewendeten Augen selbst in den Kopf schaute. Man hört über Ohrstöpsel nicht etwas innen, was man außen auch hören kann. In meiner Kopfraum-Arbeit wird der hörende Blick nach innen gewendet, man hört und schaut in den eigenen Kopf hinein, wo die Klänge stereophon sich verschlingen, durchkreuzen, sich wölben, ins Zentrum wandern oder vertikal einen Raum bis zu einem nicht meßbaren Weit-oben spannen.

2004 bekam ich von Radio France den Auftrag, einige neue Kopfraum-Stücke speziell für das Atelier Radiophonique von France Culture zu entwerfen und zu realisieren. Diese akustisch-räumlichen Arbeiten, mit Kommentaren waren es ca. 45 Minuten Sendezeit, wurden anfangs Mai 2005 über Radiostereophonie (für Kopfhörer) ausgestrahlt. Für an die 250.000 Empfänger. Radio nicht nur als Kunst-Medium, sondern als ein Kunst-Raum-Medium. Das hatte die Redakteure von Radio France – mittlerweile auch von WDR Köln und vom SWR Baden-Baden, wo auch einige der Kopfräume gesendet wurden – neugierig gemacht. Hier tun sich aufregende Möglichkeiten der Vermittlung von räumlichen Arbeiten auf. Entwicklungen der Funktechnologie, Streaming usw. geben uns, meiner Meinung nach, erst eine Idee von Vermittlungstechniken, wie Klang und Raum, wie Ton-Raum-Skulpturen und -Architekturen gesendet, verbreitet und räumlich-körperlich abrufbar werden.


F: Zurück zu deinen Kopfraumstücken. Wie kam es zu der Idee?


L: Wie entsteht eine Idee? Wann und wie sich im Gehirn, bei diesen Milliarden Aktionen und Aktivitäten, die in jeder Sekunde stattfinden, eine Idee kristallisiert, kann man eigentlich nicht wissen. Oder wir wissen es (noch) nicht. Robert Musil schrieb über sich selbst, daß sich die unerwarteten Einfälle durch nichts anderes einstellen, als daß man sie erwartet. Sie sind, fährt er fort, ein Erfolg des Charakters, beständiger Neigungen, ausdauernden Ehrgeizes und unablässiger Beschäftigung. Selbst diese weit ausholende Erklärung ist keine voll befriedigende Antwort. Bei einem gelungenen ästhetischen Werk kann man nicht mehr sagen, wieviel an Neugierde, Wollen, Haltung, Können und nicht zuletzt Unbewußtem aus einer Idee, einem Einfall in dieses Werk eingeflossen sind. Im Gegensatz zu einem wissenschaftlichen Werk, wo das Experiment wiederholbar, d.h. überprüfbar sein muß. Die Quantenphysik sagt uns allerdings, daß das auch nicht mehr möglich ist, weil jede Intervention des Menschen den Versuch verändert. In einer ästhetischen Arbeit spielen viele Schichten unseres Ichs mit, vielleicht auch Regeln, die wir weder kennen noch beherrschen. Das ist, auch etwas weit ausgeholt, der Rahmen, um die Frage zu beantworten, wie es zu der Idee zu den Kopfräumen gekommen ist. Im Gedanken dachte ich immer wieder an Ton-Räume, die noch intimer sind als meine Ton-Liege oder mein Vertikaler Raum für eine Person. Auch gab es eine besondere Faszination für Kopfhörer, die es erstmals möglich machten, daß jeder seine eigene Klangwelt mit sich herumträgt und konkret hört. Damit wollte ich irgendwann arbeiten. Mit den Möglichkeiten der Stereophonie, Raum im Kopf abzubilden. Mich interessierte, daß und wie im Kopf Klangpunkte genau lokalisiert werden. Die Im-Kopf-Lokalisierung von Audio-Signalen ist seit Jahrzehnten eine Herausforderung für die Akustik-Wissenschaft. Wir wissen sehr wenig darüber, wie das funktioniert.

Der künstlerische Ansatz der Kopfräume war, mit meinen Mitteln, Entdeckungsreisen im eigenen Kopf zu entwerfen. Sich hörend in Räumen des eigenen Kopfes zu bewegen. Nicht das Abbilden von Außenerscheinungen war mein Interesse, wie ich schon gesagt habe. Der Kopf wird wie eine leere, hohle Kugel behandelt. (Eine mögliche Vorstellung: Klänge bewegen sich durch das Gehirn, als wäre es nicht vorhanden. Eine mögliche Frage: Kann sich das Gehirn selbst hören?) So sind verschiedene Kopfräume entstanden, die – als Audio-Skulpturen gedacht – auf einer Audio-CD „ausgestellt“ werden. Einige dieser Kopfräume werden als Audio-CD (Edition ZKM) über den Buchhandel vertrieben. Das finde ich wiederum interessant: eine akustische Skulptur, aus 0 und 1 materialisiert, im Buchhandel zu erwerben. Mit anderen Worten: Anbieten, Verbreiten, Erwerben akustisch-räumlicher Kunst über neue Plattformen, Kanäle, Netze.


F: Wie hast Du die Kopfraum-Stücke technisch realisiert?


L: Man kennt den „Kunstkopf“, der in den siebziger Jahren entwickelt worden ist, mit seiner Ohr-Mikrophonie. Damit kann man beispielsweise in einer Kontrollaufnahme überprüfen, wie und was ein (Kopf-) Hörer an einer bestimmten Stelle eines Raumes „hören“ würde. Auch an nicht zugänglichen Orten im dreidimensionalen Raum. Doch der Kunstkopf als ein den Ohren exakt nachgebildetes Aufnahmegerät kann die vertikalen akustischen Dimensionen nicht so präzise abbilden wie die horizontalen. Ich arbeite zwar bei den Kopfraum-Stücken mit dem (starren) Kunstkopf, mehr jedoch mit Ohr-Stöpsel-Mikrophonen, die jede beliebige Kopfdrehung mitvollziehen. Entscheidend für meine Kopfräume ist, daß die dreidimensionalen Ton-Raum-Linien in von mir gebauten vielkanaligen Ton-Raum-Objekten aufgenommen werden. Diese Objekte ermöglichen erst die notwendige und überprüfbare Genauigkeit von Ton-Bewegungen. Das abgespeicherte Rohmaterial wird dann über die verschiedenen Techniken der heutigen Klanggestaltung wie Filter, Frequenzregler, pitch shifting usw. weiterbearbeitet. Ein Kopfraum-Stück muß durch diese Bearbeitung in das besondere Raum-Medium „Kopf“ übersetzt werden, denn für das Im-Kopf-Hören gelten andere Hörverhältnisse als für die Akustik im Außenraum. Es ist beispielsweise kaum möglich, einen Maßstab im Kopf herzustellen. Wenn sich ein Klang nach oben bewegt, kann man die Entfernung, das Sich-Entfernen maßstäblich nicht messen.


F: Welche Erfahrungen hast du selbst mit den Kopfraum-Stücken gemacht?


L: Das Interessante daran ist, wie ich schon gesagt habe, das Nach-Innenhören, auch das Umdrehen der Augen, das Zuhören und das Mitverfolgen der Ton-Bewegungen mit nach innen gerichteten Augen. Für nicht wenige Personen ist das etwas Überraschendes, vielleicht sogar zunächst etwas Fremdartiges. Man entdeckt etwas in sich (auch über sich) selbst. Der Kopf ist – ungewohnterweise – akustisch gestaltet. Es kommt noch dazu, daß sich dabei das Raum-Vermessen selbst stark verändert, weil sich die Raum-Achsen der Ton-Bewegungen im Kopf je nach Körperhaltung verändern. Ein im aufrechten Kopf nach ober wandernder Ton beschreibt eine Vertikale, dieselbe Skulptur im liegenden Kopf bekommt eine andere Dimension, etwa eine zwar vertikal gedachte, aber horizontal nach rückwärts verlaufende Ausdehnung. Es gibt nicht die sozusagen automatische Gleichgewichtsherstellung wie beim normalen Musik-Hören mit oder auch ohne Kopfhörer – wo es gleichgültig ist, ob man sitzt, liegt, auf dem Kopf steht oder sich dreht – man hört immer Musik gleich; diese Autokorrektur durch das Gehirn findet in den Kopfräumen so nicht statt. Wie gesagt, eine Vertikalität im Kopf, ein vertikal aufsteigender Ton, wenn ich selbst vertikal stehe, ist eine Art Prolongierung meiner Position, ein Hinaufziehen in eine weite Höhe. Wenn ich liege, ist es eine „horizontale Vertikalität“ – im liegenden, um 90 Grad gekippten Kopf. Rein aus der Sicht der Wahrnehmungsanalyse eröffnen sich sehr interessante Perspektiven. Doch ist es selbstverständlich, daß eine künstlerische Arbeit mehr als Erkenntnisgewinnung durch Wahrnehmungsanalyse ist. Ein weiteres Beispiel: ich wandere mit dem Kopfraum-Stück Verwehter Raum im Kopf durch einen Außenraum mit kräftigen Windbewegungen. Ich bin mit einem verwehten inneren Kopfraum in einem verwehten Außenraum: Komplexe Raum- und Grenzschichtungen. Die Kopfräume öffnen meine künstlerische Arbeit in ein weiteres (und weites) Neuland.


F: Es fällt auf, daß keine der von dir verwendeten Klänge elektronisch generiert sind. Du arbeitest ausschließlich mit aufgenommenen Instrumental- oder Vokalklängen oder Naturgeräuschen.


L: Ich habe eigentlich nur zu Beginn mit elektronischen, eigentlich sehr direkt-einfachen Klängen (etwa gleichmäßige Schläge verschiedener Dichte) gearbeitet. Ich hatte auch damals, in den späten sechziger Jahren nicht die Möglichkeiten, intensiver mit elektronischer Klanggestaltung zu arbeiten. So war, was das Beschaffen von Ton-Material betrifft, das Verwenden von Aufnahmen mit klassischen Instrumenten eigentlich das Naheliegendste. Da ist es von Vorteil, wenn man mit Instrumentalisten zusammenarbeiten kann, die klang-experimentell offen denken und spielen. In den letzten Jahren sind mir mehrere Musiker/innen des Wiener Klangforum ideale Partner in der Material-Herstellung, sei es Posaune, Baßklarinette, Kontrabaß, Flöte, Cello oder Schlagzeug. Dieses Roh-Material, wie es nenne, ist zwar meist in sich schon sehr komplex und sinnlich-stimmig, wird aber auf die klangräumlichen Erfordernisse einer bestimmten Ton-Raum-Arbeit mit den technischen Möglichkeiten heutiger Klanggestaltung – das ist eine wahre Revolution, was auf diesem Gebiet in den letzten fünfzehn Jahren sich entwickelt hat – von mir weiter bearbeitet und geformt.

Ein anderer Aspekt dieser „sound revolution“ ist die Möglichkeit, jeden beliebigen Klang, Ton, Laut durch sampling als Roh-Material zu gewinnen. Die Natur ist dabei eine unbegrenzte Quelle. So habe ich über mehrere Monate hinweg Aufnahmen in einem Maisfeld gemacht, vom Frühsommer bis in den späten Herbst, einfach deshalb, weil ein Maisfeld jeden Tag anders klingt. Die Blätter sind zunächst weich und samtig, der Regen schlägt wie ein weicher Schlegel an, die satten Blätter wachsen und beginnen sich untereinander zu berühren, was wie ein feines Anstreifen klingt, dann beginnen sie auszutrocknen, zuerst rascheln nur einzelne, dann immer mehr, die Blätter und Stengel werden noch trockener bis zuletzt im Herbst das ganze, vom Wind durchwehte Feld knattert und rattert wie ein Percussionsstück für Holzraspeln. Ich habe viel Material gesammelt und eine Art Klangbibliothek aufgebaut. Daraus entnehme ich jeweils die Materialien, die sich für ein bestimmtes Projekt, für das klanggestalterische Bauen bestimmter Ton-Architekturen und Ton-Skulpturen eignen.


F: In den letzten Jahren wurde immer mal wieder über den „White Cube“ oder die „Black Box“ für Musikauführungen gesprochen. Braucht die Kunst, die Kunst, die Du machst, solche bewußt unbeschriebenen, offenen Räume?


L: Ein nicht unwesentlicher Teil Aspekt der heutigen Kunst ist die Frage der Aufmerksamkeit. Wie, wo, wann kann jemand noch zuhören in dieser schnellen, hastigen und medial überreizten Zeit? Aufmerksamkeit andererseits für das Zentrale dieser Kunst, nämlich die Zeit selbst. Ton-Raum-Kunst ist Zeit-Kunst. Wie läßt sich das Publikum auf die Zeit einer Installation ein. Ich versuche, diese Fragen in die Arbeit einzubetten und mögliche Antworten mitzugestalten. Bei größeren Installationen wurde bewußt ein Grundgeräusch eingesetzt, um eine akustische Einstimmung und ein Hören zu erlauben, das nicht von jedem urban Zufallslaut abgelenkt und gestört wird. Oder ein bewußtes Zurücknehmen von Helligkeit, um unser akustisches Sensorium zu aktivieren. Der Wunsch nach einem White Cube wurzelt in der Idee einer weitgehend kontrollierbaren, isolierten, purifizierten, (vermeintlicherweise daher) optimalen Präsentation des Kunstwerkes. Im White Cube wird man von nichts abgelenkt. Ein White Cube kann ein sehr meditativer, Konzentration fördernder Kunstort sein. Ungestörtes, intensives Hören bis zur Stille. Eine räumliche Klang-Bewegung kann für diesen Ort fast geometrisch klar entworfen und auch so gehört werden. Diese Genauigkeit und Präzision mit einer Arbeit auch im akustischen Medium anzustreben, kann ich gut nachvollziehen.

Akustische Arbeiten im Außenraum sind hingegen in ihren verschiedenen Parametern künstlerisch nicht exakt festzulegen. Die Bedingungen ändern sich immerzu. Im Sommer ist die Luft schwer und feucht, Schall breitet sich rein physikalisch mit einer anderen Geschwindigkeit aus als in einer kalten, klaren Luft. Regen und Wind dämpfen und verändern die Richtungen von Schallausbreitung. Helligkeit und Dunkelkeit haben ihren Einfluß darauf, wie wir hören. Die Temperatur verändert unsere Haut und somit auch unser Hören usf. Mir scheint dies mindestens so interessant. Wenn nicht sogar bereichender, wenn man sich darauf einläßt.